"Instabile HWS" oder "Kopfgelenksinstabilität"

Die sog. mechanische Instabilität der HWS und systemische Symptome
– was wirklich dahinter steckt

Eine differenzierte Stellungnahme für betroffene Patienten

Immer wieder suchen Patientinnen und Patienten mit multiplen Symptomen – etwa Schwindel, Benommenheit, Herz-Kreislauf-Schwankungen, Atemirritationen, Konzentrationsstörungen oder psychischen Beschwerden – nach einer körperlichen Erklärung. In Internetforen und in Befundberichten sogenannter „Upright-MRTs“ wird häufig eine „Kopfgelenk-“ oder „Halswirbelsäulen-Instabilität“ als Ursache genannt.

Dabei wird angenommen, dass eine mechanische Instabilität im oberen Halswirbelsäulenbereich (C0–C2) Nerven, Gefäße oder den Nervus vagus komprimieren und so das gesamte autonome Nervensystem aus dem Gleichgewicht bringen könne.
Diese Vorstellung klingt zunächst plausibel, ist aber wissenschaftlich ganz und gar nicht belegt. Es gibt bislang keine anerkannten Studien, die zeigen, dass eine rein mechanische Instabilität der HWS die Vielzahl unspezifischer systemischer Symptome erklären kann. Dafür ist unser körperliches Regulationssystem zu komplex und hat zudem viele eigene Möglichkeiten  Überbeweglichkeiten zu kompensieren. Vielmehr bedarf es einer multisystemischen und neurobiologischen Betrachtung und differenzierten Vorgehensweise.

Was ist mit „instabiler HWS / Kopfgelenk-Instabilität“ gemeint?

In der medizinischen Fachsprache beschreibt „Instabilität“ eine übermäßige Beweglichkeit einzelner Wirbelsegmente oder eine ungenügende Führung durch Bänder und Muskulatur. Messmethoden wie Translational- oder Rotationsbewegungen (> 3 mm bzw. > 11°) werden häufig als Grenzwerte genannt.
Solche Bewegungen können in seltenen Fällen – etwa bei angeborenen Fehlbildungen (Os odontoideum), schweren Traumata oder Bindegewebserkrankungen (Ehlers-Danlos-Syndrom) – tatsächlich klinisch relevant sein. Doch diese Fälle sind Ausnahmen.
Bei den meisten Menschen, die im MRT eine „Instabilität“ attestiert bekommen, handelt es sich um Messartefakte, physiologische Beweglichkeit oder klinisch irrelevante Befunde.
Eine systematische Übersichtsarbeit zeigte, dass diagnostische Tests für „obere HWS-Instabilität“ nur geringe Validität besitzen und keine sichere Aussage über klinische Beschwerden erlauben.

Zur sogenannten „zervikalen Vasopathie“ oder „Vagopathie“

In manchen Befundberichten und Onlinequellen wird zusätzlich der Begriff „zervikale Vasopathie“ oder „zervikale Vagopathie“ verwendet. Gemeint ist die Annahme, dass geringfügige Verschiebungen oder Instabilitäten der oberen HWS Blutgefäße (z. B. V. jugularis interna, A. vertebralis) oder den Nervus vagus einengen und dadurch Symptome wie Schwindel, Benommenheit, Herzrasen oder Atemprobleme auslösen.

Bislang gibt es dafür jedoch keine wissenschaftlichen Belege. Studien, die diesen Mechanismus postulieren, beruhen meist auf theoretischen Annahmen oder Einzelfallberichten – ohne objektive Bestätigung.
Viel wahrscheinlicher ist, dass die beobachteten vegetativen und sensorischen Symptome durch eine Fehlregulation im Hirnstamm entstehen – insbesondere über den trigemino-zervikalen Komplex (TCC) (s.u.), der die Nackenregion mit den vegetativen Kernen des Nervus vagus verbindet.

Damit ist die sogenannte „Vagopathie“ keine Kompression, sondern Ausdruck einer neurophysiologischen Dysbalance: Das Nervensystem verarbeitet Reize aus der HWS überempfindlich oder unkoordiniert – ein Phänomen, das bei chronischer Muskelanspannung, sensorischer Fehlsteuerung oder zentraler Sensibilisierung häufig vorkommt.

Warum die mechanische Erklärung oft nicht ausreicht

  • Fehlende wissenschaftliche Nachweise
    Zwar sind in Einzelfällen komplexe Fehlbildungen oder schwere ligamentäre Instabilitäten (Bandverletzungen) (z. B. bei ausgeprägtem Ehlers‑Danlos‑Syndrom) beschrieben, die zu Synkopen oder Gehirn­gefäßproblemen führen. So wurde etwa eine Fallstudie publiziert, bei der eine Patientin mit hypermobilen EDS und kraniozervikaler Instabilität systematische Synkopen bei HWS-Extension hatte – und nach stabilisierender Operation beschwerdefrei war. 
    Allerdings handelt es sich dabei um Einzelfälle, nicht um Studien mit größerer Stichprobe, die auch Patienten mit unspezifischer Symptomvielfalt erfassen.
    Eine systematische Übersichtsarbeit zu autonomen und respiratorischen Funktions­störungen bei zervikaler Myelopathie, d. h. bei einer Veränderung im Rückenmark, zeigt: Ja, autonome Dysfunktionen kommen vor – aber im Kontext von spinaler Kompression bzw. Myelopathie,  nicht isoliert bei mechanischer Instabilität ohne Myelopathie.
    Zudem sind die Messkriterien hoch variabel, sodass der Begriff „Instabilität“ in der Literatur nicht einheitlich verwendet wird. 
  • Unspezifität der Symptome
    Symptome wie Benommenheit, Herz-Kreislauf‐Labiles Gefühl, „Dysautonomie“, psychische Beschwerden, Wahrnehmungs- oder Gleichgewichtsstörungen sind hochgradig unspezifisch. Sie können vielfältige Ursachen haben – von Schlafmangel, zentraler Sensibilisierung, Dysregulation des autonomen Nervensystems über Psychotrauma bis hin zu muskulären Verspannungen oder zervikalen Sensorik-Dysfunktionen.
    Eine rein mechanische „Instabilitäts“-Erklärung greift hier zu kurz. Nur weil eine radiologisch als „Instabilität“ interpretierte Veränderung vorliegt, heißt das nicht automatisch, dass diese ursächlich für alle Symptome ist.
  • Mechanische Instabilität ohne Nachweis von Gefäß- oder Nervenschädigung
    In größeren Studien zur zervikalen Instabilität bzw. segmentalen Beweglichkeit konnte nicht gezeigt werden, dass diese Instabilität automatisch zu Gefäß- oder Nervenschädigung im Sinne einer zervikalen Vasopathie oder kontinuierlichen Kompression führt. Beispiel: In der Studie von Lin et al. (2024) fand sich bei Patienten mit zervikaler Radikulopathie ein Zusammenhang zwischen direkter Instabilität und muskulärer Degeneration, jedoch nicht, dass eine Traction oder konservative Therapie Instabilität verschlechterte oder eine Automatismuswirkung für autonome Symptome besteht. 

Warum sich viele Patientinnen und Patienten trotzdem in dieser Erklärung wiederfinden

Viele Betroffene erleben über Monate oder Jahre eine Vielzahl schwer erklärbarer Symptome, die von Fach zu Fach weitergereicht werden. Oft erhalten sie zwar zahlreiche Befunde, aber keine zusammenhängende Erklärung.
Nicht selten hören sie: „Das ist psychisch“ – und fühlen sich damit nicht ernst genommen oder gar stigmatisiert.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Diagnose einer „mechanischen Instabilität“ wie ein erlösender Schlüssel: Endlich eine greifbare, körperliche Ursache, die das diffuse Erleben zusammenfassen könnte.
Dieses Bedürfnis nach Erklärung und Zugehörigkeit ist vollkommen nachvollziehbar. Wir möchten diesen Wunsch nicht abwerten, sondern verstehen. Die Beschwerden sind real, belastend und keineswegs „eingebildet“.

Doch die moderne Schmerz- und Neuroforschung zeigt:
Die komplexe Symptomatik lässt sich nicht allein über Mechanik oder Statik erklären – sondern viel besser durch ein funktionelles Modell der Reizverarbeitung, in dem die Halswirbelsäule eine wichtige, aber neurophysiologische Rolle spielt.

Die HWS als neurophysiologisches Schaltzentrum
– der Trigeminocervicale Komplex (TCC)

Die oberen zervikalen Nerven (C1–C3) und der Nervus trigeminus treffen im Hirnstamm im trigemino-zervikalen Komplex (TCC) aufeinander. Dieses Netzwerk verbindet Nacken, Kopf und Gehirnzentren der Schmerzwahrnehmung, Augenbewegung und vegetativen Regulation.

Über diesen Weg kann eine gestörte Afferenz aus der Nackenmuskulatur – etwa durch muskuläre Dysbalance, Dauerspannung oder sensorische Fehlverarbeitung – zu Überaktivität in Hirnstamm- und limbischen Zentren führen.  Das erklärt, warum Nackenprobleme häufig mit Kopfschmerz, Schwindel, vegetativer Reizbarkeit oder Stresssymptomen einhergehen, ohne dass eine mechanische Kompression vorliegen muss.

Studien von Bogduk (2001, Pain 92:1-3) und Bartsch & Goadsby (2002, Brain 125:1322-1331) beschreiben den TCC als zentrale Schaltstelle der Kopf-Nacken-Schmerzverarbeitung.
Aktuelle neuroimaging-Arbeiten (Malfliet et al., 2017; Nijs et al., 2021) zeigen, dass chronische Nackenschmerzen mit Veränderungen im Salience Network und in der autonomen Regulation korrelieren – also einer zentralen, nicht mechanischen Ursache folgen.

Damit bietet das TCC-Modell eine deutlich plausiblere Erklärung für die häufig erlebten Symptome als die Vorstellung einer strukturellen Instabilität.


Fazit für Patientinnen und Patienten

  • Eine „mechanische Instabilität“ der HWS erklärt nicht zuverlässig komplexe vegetative oder psychische Symptome.

  • Dennoch ist die HWS ein Schlüsselorgan im Zusammenspiel zwischen Körper, Gehirn und autonomem Nervensystem – über den trigemino-zervikalen Komplex (TCC).

  • Ihre Beschwerden sind real und ernst zu nehmen. Es geht nicht um „Einbildung“, sondern um eine fehlgesteuerte Reizverarbeitung, die sich verändern lässt.

  • Mit einem modernen, neurophysiologisch orientierten Trainings- und Therapiekonzept sowie einer ganzheitlichen Lebensführung können Sie aktiv zur Stabilisierung beitragen.


Bedeutung für die Praxis: Was bleibt?

Obwohl die mechanische Instabilität der HWS nicht als alleinige oder breite Erklärung für alle die beschriebenen multiplen Symptome herangezogen werden kann, heißt das nicht, dass der Bereich der HWS irrelevant wäre – sondern er muss differenziert eingeordnet werden.

Was kann sinnvoll sein:

  • Eine gezielte klinische Befundaufnahme mit Neurophysiologie und Funktionsdiagnostik: z. B. Oberflächen-EMG (sEMG) der zervikalen Muskulatur, Koordinations-, Beweglichkeits- und Krafttests, Koaktivierungsmuster, Ermüdungsanalyse – um eine funktionelle Schwäche bzw. Dysbalance der Nackenmuskulatur als "Teilursache"  zu identifizieren.

  • Ein aktives, systematisches Training: Moderne neurophysiologische Techniken, etwa Stabilisationstraining der tiefen HWS-Muskulatur, sensomotorisches Training, propriozeptives Training mit EMG-Kontrolle oder Bio-Feedback, können sehr wohl zur Verbesserung von muskulärer Kontrolle, Koaktivierung und letztlich subjektivem Wohlbefinden beitragen – auch wenn keine massive radiologisch sichtbare Instabilität vorliegt.

  • Gleichzeitig: Berücksichtigung der ganzheitlichen Aspekte – Lebensführung, Schlafqualität, Stressbelastung, Ernährung, zentrale Sensibilisierung, psychische Komorbidität, autonome Dysregulation – da hier vielfach Ansatzpunkte liegen, die eine mechanische Erklärung übersteigen.

Wann ist eine Abklärung sinnvoll?

  • Bei  "normalen" radiologischen und orthopädischen Untersuchungen, die  keine Erklärung der Beschwerden findet.

  • Wenn vielfältige Symptome bestehen, die primär dem Nervensystem zugeordnet werden müssen, aber keine neurologische Ursache gefunden werden kann.

  • Bei unspezifischen Beschwerden, die eher systemisch (z. B. Synkopen, autonomes Beschwerdebild, psychische Symptome) sind, sollte nicht automatisch die HWS-Instabilität als Hauptursache gelten, sondern im Rahmen einer diagnostischen Gesamtbetrachtung.


Schlussfolgerung für Patienten

Liebe Patientin, lieber Patient:
Es ist verständlich, dass Sie nach einem einzigen klaren „mechanischen“ Erklärungsmodell für Ihre Beschwerden suchen – insbesondere wenn zahlreiche unterschiedliche Symptome bestehen. Allerdings zeigt die aktuelle wissenschaftliche Literatur:

  • Eine alleinige mechanische Instabilität der HWS oder eine einfache „zervikale Vasopathie“ reicht nicht aus, um die Vielzahl der beschriebenen Beschwerden zuverlässig zu erklären.

  • Das bedeutet nicht, dass Ihre Beschwerden „nur psychisch“ oder „eingebildet“ sind – ganz im Gegenteil: Sie sind echt, belastend und verdienen eine sorgfältige Abklärung und Therapie.

  • Es ist sinnvoll, eine gezielte funktionelle Diagnostik (z. B. muskuläre Kontrolle, sensorische Integration, autonome Regulation) durchzuführen und auf der Basis dieser Befunde ein individuelles Reha- und Trainingsprogramm aufzusetzen. Solches Training kann wirksam zur Besserung beitragen – insbesondere wenn es moderne neurophysiologische Ansätze (wie sEMG-gesteuertes Training, sensomotorische Steuerung) umfasst.

  • Gleichzeitig ist es wichtig, auch die größere gesundheitliche Gesamtsituation in den Blick zu nehmen: Schlafqualität, Stress- und Traumabelastung, Lebensstil, Ernährung, zentrale Sensibilisierung – all dies beeinflusst Schmerzen und multisystemische Symptome.

  • Wenn im Rahmen der Abklärung Hinweise auf eine relevante strukturelle HWS-Instabilität bestehen (z. B. Fehlbildung, klare radiologische Instabilität, neurologische Zeichen), ist eine interdisziplinäre Abklärung unabdingbar. Falls nicht, ist  die HWS zwar mitbedacht, kann aber nicht als alleinige Ursache dargestellt werden.

In unserem Zentrum bieten wir Ihnen eine multimodale Therapieplanung an, bei der wir auf Basis Ihrer individuellen Befunde – muskulär-funktionell, neurophysiologisch und psychosozial – gemeinsam mit Ihnen ein Konzept entwickeln: stabilisierendes Training, sensomotorisches System-Training, Lebensstiloptimierung, ggf. psychosoziale Begleitung und bei Bedarf weiterführende neurologisch-orthopädischer oder auch psychosomatischer Abklärung.

Ich lade Sie herzlich ein, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen – mit wissenschaftlicher Sorgfalt, funktioneller Zielorientierung und einem Blick auf das Ganze.

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